amerikanische Philosophie

amerikanische Philosophie
amerikanische Philosophie,
 
nordamerikanische Philosophie. Der pluralistische Kulturbestand Nordamerikas spiegelt sich auch in seiner Philosophie. Ein Grundzug ist die praktisch-pragmatische Orientierung, auch wenn in der Frühzeit der Idealismus eine stärkere Rolle spielte. Später jedoch behaupteten ein pragmatischer Realismus und in neuerer Zeit der logische Positivismus das Feld; darüber hinaus zeigen phänomenologische Forschungen den wachsenden Einfluss von M. Heideggers Philosophie.
 
Im 18. Jahrhundert fanden zunächst kalvinistisch-puritanische Gedanken Eingang durch die deterministisch-idealistische Religionsphilosophie von J. Edwards (Vorläufer der Neuengland-Theologie). Der Übergang zur Aufklärung wurde von S. Johnson unter dem Einfluss von G. Berkeley und B. Franklin und der Naturphilosophie I. Newtons vollzogen. Die entscheidenden Tendenzen dieser Epoche waren die materialistische Metaphysik von J. Priestley, die deistische Religionsphilosophie von T. Paine und der optomistische Humanismus und säkulare ethische Naturalismus innerhalb der Naturrechtslehre der politischen Philosophie von T. Jefferson.
 
In der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten R. W. Emerson, H. D. Thoreau und W. E. Channing eine zum Teil eklektische, idealistisch-transzendentalistische Philosophie, die weitgehend unter dem Einfluss des deutschen Idealismus und der Romantik stand. Die von H. C. Brockmeyer gegründete »Saint-Louis-Bewegung« sowie das von W. T. Harris herausgegebene »Journal of Speculative Philosophy« (1826-93), die erste rein philosophische Zeitschrift in Nordamerika, standen besonders unter der Wirkung von G. W. F. Hegel. Ihren Höhepunkt erreichte die idealistische Richtung im Personalismus von G. H. Howison und der Herausgabe der »Philosophical Review« (1892). Einer der letzten Vertreter dieser Richtung war J. Royce.
 
Die Übergangszeit zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert (1880-1940) wird oft als das »klassische Zeitalter« der amerikanischen Philosophie angesehen. Sie wurde von den Hauptrichtungen des Pragmatismus, des Realismus und des Naturalismus bestimmt. Der Pragmatismus als eigentliche eigenständige Leistung der amerikanischen Philosophie wurde von C. S. Peirce begründet. Er erarbeitete das methodische Prinzip zur Sinnklärung von Fundamentalbegriffen durch ihre empirisch-experimentale Wirkung. Damit bereitete er die logisch-analytische Philosophie des 20. Jahrhunderts vor. W. James entwickelte hieraus eine Wahrheitslehre, die sich auf die theoretische Verifikation und auf psychologische Begründungsverfahren beruft. Unter dem Einfluss des Hegelianismus und Darwinismus vollzog J. Dewey die Weiterentwicklung des Pragmatismus zum Instrumentalismus. Um die Erkenntnis und das gesamte philosophische Denken auf den praktischen, sozialen, politischen und pädagogischen Bestand des menschlichen Daseins unmittelbar zu beziehen, stellte Dewey die Erfahrung und das Wachstum des Lebens in der konkreten Wirklichkeitsdynamik ins Zentrum seiner Philosophie. Der sich an W. James anschließende Neorealismus von R. B. Perry, W. P. Montague, F. B. Holt u. a. richtete sich gegen den erkenntnistheoretischen Subjektivismus und behauptete den unabhängigen Realbestand des Erkenntnisobjekts.
 
Als kritische Realisten verstanden sich G. Santayana, R. W. Sellars und A. O. Lovejoy. Der Naturalismus entwickelte sich in Verbindung mit Dewey und dem frühen Santayana. Zu ihm gehören besonders M. R. Cohen und E. Nagel. R. B. Perry vertrat eine Wertlehre auf naturalistischer Basis, die den Wert vom Interessenbezug her bestimmt. A. N. Whitehead arbeitete ein spekulatives naturphilosophisches System auf der Grundlage der Mathematik aus. Am Übergang zur analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts steht C. I. Lewis, der unter dem Einfluss von I. Kant und Dewey ein pragmatisches System entwickelte.
 
Eine eigene Stellung nimmt H. A. Wolfson ein, dessen Werke, u. a. über Philon und B. de Spinoza, eine neue Auslegung der Philosophiegeschichte bieten.
 
Um die Mitte des 20. Jahrhunderts (1940-1970) spielten neben der von M. Farber geführten, von J. Wild neu angeregten phänomenologischen Bewegung und den von der europäisch protestantischen Theologie (P. Tillich) und der scholastischen Tradition (J. Maritain, É. Gilson) angeregten Tendenzen die analytische Philosophie die beherrschende Rolle. Sie geht in ihren Ursprüngen auf G. Frege, B. Russell, G. E. Moore und L. Wittgenstein zurück. Die formale Logik, die sich von der Formalisierung der Mathematik bis zur Reduktion der Logik auf ein streng einheitliches System des Kalküls entwickelte, bereitete den logischen Positivismus vor, der durch die eingewanderten Vertreter des Wiener Kreises, R. Carnap, H. Feigl und H. Reichenbach, sowie durch C. G. Hempel und den Polen A. Tarski zur herrschenden Strömung wurde. Vom Verifikationsprinzip der empirischen Bedeutung geleitet, lehnt diese Richtung die Metaphysik als sinnlos ab und sieht ihre Aufgabe in der wissenschaftlichen Grundlagenforschung. Grundfragen sind hierbei die Struktur der wissenschaftlichen Theorienbildung, das Verhältnis von analytischem und synthetischem Vorgehen und die Unabschließbarkeit von axiomatischen Systemen. Diese Untersuchungen wurden besonders von W. Van O. Quine, N. Goodman, A. Church, A. Pap und R. M. Chisholm betrieben. Hiervon unabhängig wurden durch die philosophische Analyse von G. E. Moore jedoch auch antinaturalistische Tendenzen angeregt.
 
Der logische Empirismus wurde von der sprachanalytischen Philosophie abgelöst, die unter dem Einfluss des späten Wittgenstein und seiner englischen Nachfolger die alltägliche Sprache untersuchte und in der amerikanischen Philosophie vor allem von Max Black, * 1909, ✝ 1988, Norman Adrian Malcolm, * 1911, N. Chomsky, S. A. Kripke sowie H. Putnam vertreten wird. Dabei erfolgte eine Wiederannäherung an realistischen Positionen, und es wurde eine Phase eingeleitet, in der metaphysischen Fragestellungen allmählich wieder mehr in den Vordergrund traten.
 
Nach 1970 setzte sich die im 20. Jahrhundert insgesamt äußerst vielfältige Entwicklung der amerikanischen Philosophie mit ausgeprägt individualistischen und pluralistischen Zügen fort. Im Zuge der Kritik und Selbstkritik des logischen Empirismus beziehungsweise Positivismus (P. K. Feyerabend, T. S. Kuhn, W. Van O. Quine, H. Putnam u. a.) hat die analytische Philosophie ihre methodischen Ideale modifiziert und ihren thematischen Horizont erweitert; so werden heute analytische Ethik (W. Frankena, J. Rawls u. a.), Ästhetik (N. Goodman, Arthur Coleman Danto, * 1924, u. a.), Metaphysik (R. M. Chisholm, David Kellogg Lewis, * 1941, ✝ 2001, u. a.), Religionsphilosophie (Alvin Plantinga, * 1932, u. a.) ebenso betrieben wie analytische Erkenntnistheorie (Gilbert Helms Harman, * 1938, Barry Stroud, Alvin I. Goldman u. a.) und Wissenschaftstheorie (Wesley C. Salmon, Bas C. van Fraassen u. a.). Neben die analytische Richtung treten anders orientierte oder sogar gegenläufige Strömungen, zum Teil von der europäischen Vernunftkritik (F. Nietzsche, M. Heidegger, J. Derrida) inspiriert; als Vermittler zwischen den Traditionen übt R. Rorty großen Einfluss aus. Die Geschichte der Philosophie und die außeramerikanischen Entwicklungen finden insgesamt stärkere Beachtung als in den Jahrzehnten zuvor. - Ein viele Richtungen verbindendes Charakteristikum ist das erneute Interesse am Pragmatismus. Freilich werden dabei heterogene Begriffe von Pragmatismus ins Spiel gebracht. Bemüht sich eine Richtung um die Einbeziehung pragmatischer Wahrheits- und Erkenntniskonzeptionen in die analytische Erkenntnistheorie (N. Rescher, Putnam, Susan Haack u. a.), so versucht eine andere, die klassische amerikanische Philosophie gegen die von Europa ausgegangene analytische Richtung auszuspielen und eine »postanalytische« Philosophie zu begründen. In jüngster Zeit hat Robert B. Brandom für einen weiten Begriff des Pragmatismus plädiert (»Vorrang des Praktischen«), der die unterschiedlichen Traditionen in fruchtbarer Weise aufeinander zu beziehen erlaubt. Brandoms Opus magnum »Making it explicit« (1994; deutsch »Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung«) und John McDowells »Mind and world« (1994; deutsch »Geist und Welt«) nähren die Hoffnung auf eine Synthese von pragmatistischen, analytischen und kontinentalen Denktraditionen.
 
In der theoretischen Philosophie arbeiten viele an dem Projekt einer systematischen Theorie der Bedeutung (D. Davidson, M. Dummett, Brandom u. a.). Goodman hat eine allgemeine Symboltheorie entworfen und ihre erkenntnistheoretischen Konsequenzen aufgezeigt. Besonders produktiv ist die Philosophie des Geistes, die in enger Kooperation mit den Kognitionswissenschaften und der Hirnforschung rasche Fortschritte erzielt hat (D. C. Dennett, Jerry A. Fodor, * 1935, u. a.). In der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sowie der Bedeutungstheorie stehen sich realistische und antirealistische Positionen gegenüber (Michael Devitt, Putnam, Goodman, in Großbritannien: Dummett). Besonders in der Erkenntnistheorie (Quine, Goldman, Stephen Stich) und in der Philosophie des Geistes (Paul M. Churchland, Patricia Smith Churchland, * 1943) werden die Möglichkeiten einer Theorie der Rationalität ausgelotet. Dabei werden die Vor- und Nachteile pluralistischer und relativistischer Positionen kontrovers diskutiert.
 
In der praktischen Philosophie hat das Interesse an Tugendethik (A. MacIntyre u. a.) und an moralpsychologischen Fragen zugenommen. Utilitaristische und vertragstheoretische Ethikkonzeptionen werden auf der Ebene formalisierter Theorien diskutiert (Amartya K. Sen u. a.). Sprunghaft angestiegen ist die Nachfrage nach angewandter Ethik: Medizin- und Bioethik (Hugo Tristram Engelhardt, * 1941; Tom L. Beauchamp), Tierethik (Tom Regan, Peter Singer), Umweltethik, Wirtschaftsethik usw. und nach »applied philosophy« überhaupt.
 
Neben einer katholischen Richtung (Joseph Quentin Lauer, * 1917, und Ernan Vincent McMullin, * 1924) und einer protestantischen (Robert C. Neville, * 1939, und Thomas J. J. Altizer, * 1927) entwickelte sich eine weit verzweigte jüdische Philosophie (Emil Ludwig Fackenheim, * 1916, und Abraham Joshua Heschel, * 1907, ✝ 1972).
 
Zur Philosophie in Lateinamerika lateinamerikanische Philosophie.
 
 
W. H. Werkmeister: A history of philosophical ideas in America (New York 1949);
 Gustav Emil Müller: A. P. (21950);
 E. Baumgarten in: Amerikakunde, hg. v. P. Hartig (21952);
 J. L. Blau: Philosophie und Philosophen Amerikas (a. d. Amerikan., 1957);
 H. W. Schneider: Gesch. der a. P. (a. d. Amerikan., 1957, mit Bibliogr.);
 A. J. Reck: Recent American philosophy (New York 1964);
 
The American philosophy in the twentieth century, hg. v. P. W. Kurtz (ebd. 1966);
 
Post-analytic philosophy, hg. v. T. Rajchmann u. C. West (ebd. 1985);
 
American philosophy, hg. v. M. G. Singer (Cambridge 1985);
 W. Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 2-4 (1-81987-89);
 J. A. Passmore: Recent philosophers (London 21988);
 J. P. Murphy: Pragmatism. From Peirce to Davidson (Boulder, Colo., 1990);
 R. Rorty: Consequences of pragmatism. Essays 1972-1980 (Neuausg. New York u. a. 21992);
 N. Rescher: American philosophy today and other philosophical studies (Lanham, Md., 1994);
 
Die Renaissance des Pragmatismus. Aktuelle Verflechtungen zw. analyt. und kontinentaler Philosophie, hg. v. M. Sandbothe (2000).

Universal-Lexikon. 2012.

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